Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema kann auch nicht sofort mit anthroposophischen Begriffen beginnen. Vorher muß geklärt werden, was Homosexualität eigentlich ist. Was bedeuten die verwendeten Begriffe? Wie ist die Situation derjenigen Menschen, die sich "Homosexuelle" oder "Schwule" nennen, die homosexuelle Erfahrungen machen oder machen möchten? Wie sieht die Sozial- und Sexualwissenschaft die gleichgeschlechtliche Liebe? Wie ist die Geschichte der Homosexualität und der Homosexuellen? Erst wenn alle diese Fragen wenigstens kurz angetippt worden sind, kann nach einer spezifisch anthroposophischen Sichtweise gefragt werden.
Dieser Beitrag bezieht sich hauptsächlich
auf die männliche Seite der gleichgeschlechtlichen Liebe -- nicht,
weil ich die Diskussion über die weibliche Seite, die lesbische Liebe,
für weniger wichtig halte, sondern weil ich als Mann nicht den Standpunkt
von Frauen einfach mitvertreten kann.
Um dem Wesen einer Sache auf die Spur
zu kommen, ist eine begriffliche Eingrenzung hilfreich: Worauf will ich
überhaupt mein Augenmerk richten?
Im Fremdwörter-Duden lese ich unter dem Stichwort Homosexualität: "Sich auf das eigene Geschlecht richtendes Geschlechtsempfinden, gleichgeschlechtliche Liebe". Diese Definition sollte verwundern: Homosexualität wird hier erklärt mit den Worten "Empfinden" und "Liebe". Ein solches ganzheitliches Verständnis ist im Alltag nicht üblich: Mit dem Wort Sexualität wird meist nur die "körperliche Liebe", der "Sexualakt" oder "Geschlechtsverkehr" bezeichnet. Zwar sprechen viele Menschen auch von Homosexualität, als sei sie nur der körperliche Teil: Der seelische wird dann "Homoerotik", der geistige "Homophilie" genannt. Solche Bemühungen, zwischenmenschliche Beziehungen in einzelne Teile zu zerlegen, sind aber oft nur Versuche, den körperlichen Aspekt der Sexualität auszuklammern oder abzuwerten. Deshalb benutze ich das Wort Homosexualität, wie der Duden, für die leiblich-seelisch-geistige Ganzheit gleichgeschlechtlicher Beziehung -- wörtlich: Gleich-Geschlechtlichkeit. Die Leser müssen bei diesem Begriff immer neu daran denken, daß mehr als ein körperlicher "Sexualakt" gemeint ist: Empfinden und Liebe.
Ein Homosexueller wird man demzufolge nicht dadurch, daß man einmal oder mehrmals mit Menschen gleichen Geschlechts körperliche Sexualität hatte. Entscheidender ist, ob das Empfinden auf das andere oder auf das gleiche Geschlecht gerichtet ist. Allerdings gibt es nicht nur Menschen, die ausschließlich das gleiche, und andere, die ausschließlich das andere Geschlecht lieben, sondern ein Kontinuum geschlechtlicher Orientierung. Die moderne Sexualwissenschaft geht davon aus, daß im Menschen ursprünglich beide Orientierungs-Richtungen angelegt sind, aber meist nur eine davon (in der Regel die heterosexuelle) später ausgelebt wird. Der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey kommt zu dem Schluß, daß mehr als ein Drittel der Menschen homosexuelle Erlebnisse haben oder hatten. Zahlenangaben dafür, wie viele Menschen überwiegend oder ausschließlich homosexuell empfunden, reichen von 4 bis zu 10% der Bevölkerung. Die Begriffe Homosexueller und Heterosexueller müssen also unscharf bleiben; die Grenze zwischen ihnen ist fließend. Außerdem kann die geschlechtliche Orientierung während des Lebens wechseln oder sich verschieben: Etliche Menschen entdecken ihre homosexuellen Anteile erst nach vielen glücklichen Ehejahren als Familienvater oder -mutter. Wer von "Homosexuellen" und "Heterosexuellen" spricht, kann also bestenfalls zur Zeit überwiegend Homosexuelle bzw. Heterosexuelle meinen.
Ein weiterer Begriff, der häufig benutzt
wird ist schwul. Ursprünglich aus "schwül" entstanden und ein
Schimpfwort, wurde er von selbstbewußten Homosexuellen (Schwulen)
gewendet in ein Bekenntnis zu offen gelebter und politisch-kämpferisch
verstandener Homosexualität. Wegen seines verächtlichmachenden
Beigeschmacks wird er von Nicht-dazu-Gehörenden gerne vermieden; da
er aber kurz, kein Fremdwort sowie allgemein bekannt ist, benutzte ich
ihn positiv für offen gelebte Homosexualität und vor allem, wenn
es um deren soziale Auswirkungen geht.
In unserer "aufgeklärten" Gesellschaft
wird zwar immer mehr über Sexualität gesprochen, und sie findet
auch überall statt -- allerdings wird lediglich ihr heterosexueller
Teil verständnisvoll toleriert, homosexuelle (und vor allem körperlich-sexuelle)
Beziehungen sind noch immer von Bewußtseinsnebeln, Tabus und Vorurteilen
umgeben. Noch 1951 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, daß
die beiden großen Kirchen die Volksmeinung bilden und deshalb homosexuelles
Verhalten als widernatürlich und unmoralisch gelten müsse. Erst
1969 wurde der Paragraph 175 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der
zuletzt 1935 von den Nazis verschärft worden war, ein erstes Mal "liberalisiert".
Homosexuelle Handlungen gelten seit 1973 immer noch als strafbar, wenn
sie von einem Mann über 18 an einem anderen unter 18 Jahren "vorgenommen"
werden.
Durch die veränderte strafrechtliche Lage hat sich im Bewußtsein der Bevölkerung seit Ende der 60er Jahre zwar einiges verändert, jedoch sind Halbwahrheiten und Vorurteile noch immer massenhaft anzutreffen -- dies kann man zum Beispiel in den letzten Jahren an den Medienkampagnen zu AIDS und den Reaktionen der Bevölkerung sehen. Einige solcher (Vor-?)Urteile lohnen eine genauere Betrachtung.
In vielen Gesprächen und nicht zuletzt
durch die kritische Auseinandersetzung mit anthroposophischen Ideen habe
ich Ansatzpunkte gefunden, gleichgeschlechtliche Orientierung nicht nur
als Mangel, sondern positiv und im Hinblick auf eine möglicherweise
damit verbundene Chance zu sehen.
Vielen Menschen ist der wichtigste Einwand gegen gleichgeschlechtliche Lebens- und Liebensformen ihre biologische Unfruchtbarkeit. Dem halte ich entgegen: Gerade die biologische Unfruchtbarkeit ist die Chance homosexueller Beziehungen! Was hier mangelt, kann als geistige, künstlerische und soziale Fruchtbarkeit um so wirksamer werden. Genauso wie kinderlose heterosexuelle Paare können Homosexuelle andere Formen der Selbstverwirklichung und Wirksamkeit für ihre Mitwelt finden -- vielleicht ein "geistiges Kind", ein "künstlerisches Kind", ein "soziales Kind". Ähnliches gilt auch für Menschen, die durch andere Abweichungen von gesellschaftlichen Normen unter besonderen, feindlichen Bedingungen leben müssen: Kranke, Behinderte, Farbige, Ausländer... Sie alle müssen ihr Anderssein entweder so weit wie möglich aufgeben, verbergen oder verleugnen oder aber selbstbewußt gegen die Umwelt verteidigen -- und das erfordert gesteigerte Wachheit und verstärkte Ich-Kräfte. Die Chancen sind natürlich keine Automatismen. Sie werden uns durch ein solches Anderssein angeboten, werden aber nur wirksam, wenn wir sie ergreifen. Sonst überwiegen die einschränkenden, feindlichen, diskriminierenden und krankmachenden Bedingungen, und wir werden zu jammernden und klagenden Außenseitern.
Die in unserer Gesellschaft noch vorherrschende Ablehnung alles Homosexuellen, die nahezu jeder, der irgendwann in sich solche Anteile entdeckt und zu leben versucht, erfahren muß, macht sensibler auch für alle anderen Arten von Unterdrückung und Diskriminierung, macht offener für alles Von-der-Norm-Abweichende, macht skeptischer gegenüber den eingefahrenen Wegen, auf denen die meisten Menschen so selbstverständlich und widerspruchslos entlanggeschoben werden...
Gleichgeschlechtlich Liebende haben die Möglichkeit, neue und eigene Formen des mitmenschlichen Zusammenlebens zu suchen und zu erproben: Die tragenden Institutionen des heterosexuellen sozialen Lebens, wie zum Beispiel die Ehe, passen nicht. Wenn sie versuchen, sie trotzdem zu übernehmen, beispielsweise, indem sie "wie Mann und Frau" und mit derselben dort üblichen Rollenverteilung zusammenleben, wird das leicht zum lächerlichen Zerrbild. Was auch für heterosexuell lebende Menschen gilt, trifft für Homosexuelle ganz besonders zu: Das Zusammenleben muß unabhängig von durch Eltern und Familie vorgelebten Traditionen neu gegriffen und gestaltet werden. Homosexuelle müssen, sehr viel stärker als etwa unverheiratet zusammenlebende heterosexuelle Paare, ihre Lebensweise immer von neuem gegenüber Umwelt, Nachbarn, Familie, Arbeitskollegen rechtfertigen und begründen (oder verstecken!). Dabei kann man viel Zeit und Kraft verlieren -- und auch im schlimmsten Fall zerbrechen --, aber die Anstrengung kann auch neue Kräfte freisetzen und kreativ genutzt werden. Wo Muster und Schablonen fehlen, ist Raum, Neues zu erfinden und zu erproben.
Mehrere Menschen berichten, die Beschäftigung
mit Steiners "Philosophie der Freiheit" und seine konsequente Auffassung
von der Selbstgestaltung und -verantwortung der menschlichen Handlungen
habe ihnen den Mut gegeben, vor sich und der Welt zu ihrer Homosexualität
zu stehen und sie als einen Teil ihres Wesens zu akzeptieren. In einer
Zeit des Zweifelns und der Unsicherheit über ihre geschlechtliche
Orientierung ("Coming out") bekamen sie so die Möglichkeit, die starke
Stellung äußerer "Moral"-Instanzen (Kirche, Elternhaus, "gesundes
Volksempfinden"...) zurückzudrängen und einen eigenen Schritt
zu tun.
Anthroposophen und Schwule - sind das
nicht zwei völlig verschiedene Menschengruppen? -- Auch wenn es viele
gerne so hätten -- natürlich ist es nicht so, sondern es gibt
immer wieder Berührungs- und Überschneidungspunkte: Anthroposophen
reden und urteilen über Schwule (oder Homosexuelle), Anthroposophen
sind vielleicht selber schwul (oder entdecken homosexuelle Anteile), Schwule
interessieren sich für Anthroposophie. Und: Es gibt etwas Typisches
im Umgang zwischen Anthroposophen und Schwulen.
Zunächst fallt auf, daß Homosexualität in anthroposophischen Kreisen fast nie ein Thema ist. Sexualität -- und gleichgeschlechtliche erst recht -- wird tabuisiert, als Privatsache angesehen und mit einem Mantel des Schweigens umgeben. Die Symbole offen gelebten Schwulseins sind nicht bekannt, werden ignoriert oder bestenfalls ohne weiteres Interesse zur Kenntnis genommen: zum Beispiel der "rosa Winkel", der vom diskriminierenden nationalsozialistischen Symbol für Homosexuelle in den Konzentrationslagern zum Zeichen selbstbewußt und offensiv gelebter Gleichgeschlechtlichkeit umgewandelt wurde.
Ganz besonders schwer ist es für Jugendliche -- beispielsweise für Waldorfschüler --, ihr homosexuelles "Coming out", das Akzeptieren einer eigenen gleichgeschlechtlichen Orientierung und ihr allmähliches Bekennen", In einer anthroposophischen Umwelt zu erreichen. Das Leben und Denken vieler Anthroposophen ist so durchdrungen und geprägt von der Polarität von Mann und Frau, daß schon allein die Vorstellung, Menschen des gleichen Geschlechts könnten sich genauso gut ganzheitlich -- also auch körperlich -- verstehen und produktiv ergänzen, als unangebracht, ungeistig, falsch und böse erscheinen muß.
Wer in die real existierende anthroposophische Welt erst als Erwachsener hineinkommt und vorher eine eigene gleichgeschlechtliche Orientierung entdeckt hat, empfindet meist die Stimmung, die ihm entgegengebracht wird, als einen Rückschritt in die 50er Jahre: Tabu, Vorurteil, Wegschauen oder gar Ablehnung und "Heilungs"-Versuche. (Da wird zum Beispiel diskret eine anthroposophische Ärztin erwähnt, die ein Weleda- oder Wala-Medikament wisse, das da helfe...)
Und es gibt auch direkte Diskriminierungen:
Menschen verlieren den Ausbildungsplatz, werden von der Schule entfernt
und dergleichen mehr. Diese Aussagen sind zwar sehr pauschal formuliert,
und es wird mit Sicherheit viele Anthroposophen geben, die dem Klischee
überhaupt nicht entsprechen; aber die Tatsache, daß mir immer
wieder Menschen diese Erfahrungen berichten und bestätigen, zeigt,
daß sie doch weit verbreitet sind.
Wie sieht es mit einer theoretischen Aufarbeitung
unseres Themas aus? Da wird in der Regel zuerst gefragt: "Was hat Rudolf
Steiner dazu gesagt?" Dies kann aber nicht durch eine veröffentlichte
Äußerung zur gleichgeschlechtlichen Liebe beantwortet werden,
und so muß die Fragerichtung erweitert werden: "Was haben Anthroposophen
dazu gesagt?". Homosexualität wird hier nicht häufig thematisiert;
wenn dann von ihr die Rede ist, dann oft in unklaren und verwaschen bleibenden
Andeutungen, wie zum Beispiel bei Olaf Koob, der im Zusammenhang mit AIDS
von Homosexuellen spricht als "Menschen, die ihre Lebenskräfte im
Blut absichtlich oder aber von Geburt her geschwächt bzw. beschädigt
haben". Leider bleibt das unerklärt. -- Abgesehen von solchen aphoristischen,
hingeworfenen Sätzen scheinen mir unter der "Sekundärliteratur"
drei Denkrichtungen wesentlich zu sein, die ich hier kurz vorstelle.
Eine weit verbreitete Theorie über die "Homophilie" stammt von dem holländischen Arzt Dr. med. L. F. C Mees. Sie ist durch die mehrfache Veröffentlichung des fleißig schreibenden und vortragenden Autors schon recht bekannt und verdient (allerdings nur deshalb) Beachtung. Obwohl sie mir sehr spekulativ und konstruiert erscheint, will ich sie kurz zusammenfassen. Vorausgesetzt wird die Idee der Wiederverkörperung (Reinkarnation) des Geistes sowie die Kenntnis der menschlichen Wesensglieder aus der anthroposophischen Menschenkunde. -- Mees geht von der Abtreibung und ihren vermuteten Folgen für die ungeborene Seele aus: Diese könne sich nicht mehr am Ort ihrer ersten Wahl inkarnieren und müsse sich einen weniger passenden Ort suchen. Der so zunächst abgetriebene und dann am falschen Platz geborene Mensch wird zur "displaced person", die sich in keiner Heimaterde verwurzeln kann. Ein Symptom dieses Mangels an Verbindung zur Umgebung könne die "Homophilie" sein. Mees denkt sich das so: Der physische Leib des Kindes sei grundsätzlich vom gleichen Geschlecht wie der ihn aufbauende Äther- oder Lebensleib, denn nur so könne er von diesem gebildet und gestaltet werden. Rudolf Steiner hat aber gesagt, daß beim Manne der Ätherleib weiblich und bei der Frau männlich ist. Um diesen Widerspruch zu bewältigen, erdenkt Mees einen Geschlechtswechsel des Ätherleibes zum Zeitpunkt der Pubertät, der durch die nun stattfindende Verbindung mit Erde und Umwelt zustandekomme. Bei der abgetriebenen und dann "displaced" geborenen Seele gelinge aber diese Verbindung mit der ihr schicksalsmäßig vorbestimmten Umwelt nicht, und ein Symptom dafür könne oben die "Homophilie" sein. Das Nicht-Gelingen der Umarbeitung des Ätherleibes in die gegengeschlechtliche Form habe also zur Folge, daß die "natürliche" Liebe des Mannes zum Weib nicht möglich wird. Um die Art Mees'scher Gedankenführung wiederzugeben, zitiere ich die Begründung dieses Zusammenhanges zwischen Geschlechtlichkeit des Ätherleibes und der Richtung der Liebe:
Eine dritte Aussage stammt von Bernard C. J. Lievegoed, einem in den Niederlanden sehr bekannten anthroposophischen Autor. Ich zitiere die betreffende Stelle im Wortlaut, da sie an Kürze und Präzision kaum zu überbieten ist:
Die Ausführungen Lievegoeds kann ich
unmittelbar am besten nachvollziehen. Der Mut weiterzudenken wird allerdings
wirksam gebremst -- Lievegoed hat auf die Verantwortung für alle Spekulationen
und Mutmaßungen aufmerksam gemacht, jedenfalls was die Schicksale
anderer Menschen betrifft.
Für unser Thema ist es sehr wichtig,
zu unterscheiden zwischen den Begriffspaaren weiblich-männlich und
Mann-Frau. Sie sind keineswegs identisch. Allgemein bekannt ist die Tatsache,
daß im Körper des Mannes auch "weibliche" Sexualhormone vorkommen.
Sie werden in ihrer Wirkung nur überlagert von den männlichen
- trotzdem nennen wir das Wesen, der physischen Erscheinung nach, Mann,
und nicht etwa "Dreiviertelmann". Ähnliches gilt für die anderen
Merkmale, die für die Entscheidung, ob Mann oder Frau, wichtig sind:
Nicht das reine Auftreten, sondern ihr Überwiegen zählt. Nicht
selten ist die Entscheidung auf den ersten Blick gar nicht so leicht --
und die Natur produziert ja auch manchmal echte Zwischenstufen ("Zwitter").
Die eigentliche Polarität ist also die des Weiblichen und Männlichen mit ihren verschiedenen Merkmalen, jedes Individuum befindet sich irgendwo in diesem vieldimensionalen Feld, und je nachdem, ob die weiblichen oder die männlichen Eigenschaften vorherrschen, sagen wir "Frau" oder "Mann".
Noch verwirrender wird das alles, wenn wir nun noch die gegengeschlechtlichen Ätherkräfte hinzudenken sollen - der Mann hat einen weiblichen Ätherleib! Was uns also beim Mann seelisch-geistig oft als "typisch männlich" auffällt -- zum Beispiel sein intellektuelleres, abstrakteres, schärferes, aber auch ungeistigeres Denken --, entsteht möglicherweise gerade durch weibliche Ätherkräfte...?
Hiermit soll nur gezeigt werden, daß
Mann und männlich bzw. Frau und weiblich nicht dasselbe ist. Das hat
für unser Thema Homosexualität eine wichtige Konsequenz: Müssen
sich im täglichen Leben nun Mann und Frau ergänzen (zum Beispiel
in der Ehe) --, oder will das Männliche zum Weiblichen? --, und sind
dazu Mann und Frau nötig --? Solche Fragen, jenseits aller muffigen
Moral und Konvention, aufzugreifen und zu erhellen, könnte ein interessantes
Feld für anthroposophisch-phänomenologische Forschungen sein.
Wie wäre es mit einer großangelegten
Homosexuellen-Demonstration auf dem Dornacher Hügel? -- Nein, es wurden
schon viel originellere Vorschläge gemacht: Pseudonymus hat in "Info3"
angeregt, an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach
eine Sektion für Sexualwissenschaft einzurichten und die Herausgabe
eines Buches mit dem Titel "Homosophie" vorzubereiten. Diese Art von Anregungen
würde ich sehr gerne erweitern (z.B. könnte Pseudonymus ein Preisausschreiben
veranstalten, mit der Frage, welche unter den bekannten Anthroposophen
zu den gleichgeschlechtlich Liebenden gehören und woran man dies erkennt.
Ich will es mir jedoch versagen, einem wichtigen Thema durch Ironie oder
Satire die Annahme zu erschweren - auch wenn sie für manche Menschen
dadurch vielleicht eher erleichtert würde.
Selbst ernster gemeinte Vorschläge werden es schwer haben: Die Ängste vor der Verbindung von schwul und anthroposophisch sind groß. Eine anthroposophische Dame schreibt, ohne ihren Namen nennen zu wollen (!), an Info3:
Auch auf der persönlich-individuellen Ebene könnte viel getan werden. Gleichgeschlechtlich liebende Menschen müssen, wie gesagt, Formen für ihr (Zusammen-)Leben noch schaffen, die Gesellschaft bietet ihnen nichts "Passendes" an. Ein Nachahmen der bürgerlichen heterosexuellen Ehe scheint für viele zunächst der leichteste Ausweg aus der doch nicht gewollten bloßen Promiskuität und inneren Einsamkeit zu sein. Wer so zu leben versucht, steckt aber in zweierlei Hinsicht in einer Sackgasse: Er redet sich ein, dadurch genauso "normal" und akzeptiert zu werden wie die anderen, die Heterosexuellen -- ohne zu bedenken, wie schnell erfahrungsgemäß solche "Toleranz" wieder in massiven Haß umschlagen kann; und er vertut die Chance, die Homosexualität bietet: die Infragestellung all der bürgerlichen Selbstverständlichkeiten, in die ein "normales" Ehepaar heute verstrickt ist; er verzichtet auf die besondere Wachheit, die sich nur einstellt, wenn das Anderssein bemerkt, reflektiert und zur bewußten Neugestaltung genutzt wird.
Die Frage "Was tun?" bleibt weitgehend ohne Antwort -- sie muß von jedem einzelnen gegeben, gelebt werden. Nicht nur von gleichgeschlechtlich Liebenden -- sie haben lediglich weniger gute Fluchtmöglichkeiten.
Leber, Stefan: Geschlechtlichkeit und Erziehungsauftrag. Ziele und Grenzen der Geschlechtserziehung, Stuttgart 1981
Lievegoed, Bernard: Lebenskrisen - Lebenschancen. München 1979, S. 99ff
-ders.: Der Mensch an der Schwelle - Biographische Krisen und Entwicklungsmöglichkeiten, Stuttgart 1985, S. 103
Mees, L.F.C.: Das Problem der Homophilie, in: Die Kommenden, Heft 20, 25.10.1983