Artikel aus: Info3, Die etwas andere Zeitschrift zum Thema Anthroposophie, Nr. 4/1987



 
 

Von der gleichgeschlechtlichen Liebe -- oder: Homosexualität und Anthroposophie

Die Erwähnung irgendeiner Sache mit dem Zusatz "...und Anthroposophie" erweckt bei vielen Leuten die freudige Erwartung, es folge eine Auseinandersetzung mit den Aussagen Rudolf Steiners über diesen Gegenstand. Wer so an das Thema Homosexualität herangeht, wird enttäuscht. Leider gibt es keine veröffentlichte Aussage von ihm -- oder soll ich es andersherum sagen: Endlich einmal ein Gebiet, zu dem er nichts gesagt hat, wo wir auf unser eigenes Denken, unsere eigenen phänomenologisch-forschenden Fähigkeiten angewiesen sind?

Eine Auseinandersetzung mit diesem Thema kann auch nicht sofort mit anthroposophischen Begriffen beginnen. Vorher muß geklärt werden, was Homosexualität eigentlich ist. Was bedeuten die verwendeten Begriffe? Wie ist die Situation derjenigen Menschen, die sich "Homosexuelle" oder "Schwule" nennen, die homosexuelle Erfahrungen machen oder machen möchten? Wie sieht die Sozial- und Sexualwissenschaft die gleichgeschlechtliche Liebe? Wie ist die Geschichte der Homosexualität und der Homosexuellen? Erst wenn alle diese Fragen wenigstens kurz angetippt worden sind, kann nach einer spezifisch anthroposophischen Sichtweise gefragt werden.

Dieser Beitrag bezieht sich hauptsächlich auf die männliche Seite der gleichgeschlechtlichen Liebe -- nicht, weil ich die Diskussion über die weibliche Seite, die lesbische Liebe, für weniger wichtig halte, sondern weil ich als Mann nicht den Standpunkt von Frauen einfach mitvertreten kann.
 
 

Begriffliche Klärungen


Um dem Wesen einer Sache auf die Spur zu kommen, ist eine begriffliche Eingrenzung hilfreich: Worauf will ich überhaupt mein Augenmerk richten?

Im Fremdwörter-Duden lese ich unter dem Stichwort Homosexualität: "Sich auf das eigene Geschlecht richtendes Geschlechtsempfinden, gleichgeschlechtliche Liebe". Diese Definition sollte verwundern: Homosexualität wird hier erklärt mit den Worten "Empfinden" und "Liebe". Ein solches ganzheitliches Verständnis ist im Alltag nicht üblich: Mit dem Wort Sexualität wird meist nur die "körperliche Liebe", der "Sexualakt" oder "Geschlechtsverkehr" bezeichnet. Zwar sprechen viele Menschen auch von Homosexualität, als sei sie nur der körperliche Teil: Der seelische wird dann "Homoerotik", der geistige "Homophilie" genannt. Solche Bemühungen, zwischenmenschliche Beziehungen in einzelne Teile zu zerlegen, sind aber oft nur Versuche, den körperlichen Aspekt der Sexualität auszuklammern oder abzuwerten. Deshalb benutze ich das Wort Homosexualität, wie der Duden, für die leiblich-seelisch-geistige Ganzheit gleichgeschlechtlicher Beziehung -- wörtlich: Gleich-Geschlechtlichkeit. Die Leser müssen bei diesem Begriff immer neu daran denken, daß mehr als ein körperlicher "Sexualakt" gemeint ist: Empfinden und Liebe.

Ein Homosexueller wird man demzufolge nicht dadurch, daß man einmal oder mehrmals mit Menschen gleichen Geschlechts körperliche Sexualität hatte. Entscheidender ist, ob das Empfinden auf das andere oder auf das gleiche Geschlecht gerichtet ist. Allerdings gibt es nicht nur Menschen, die ausschließlich das gleiche, und andere, die ausschließlich das andere Geschlecht lieben, sondern ein Kontinuum geschlechtlicher Orientierung. Die moderne Sexualwissenschaft geht davon aus, daß im Menschen ursprünglich beide Orientierungs-Richtungen angelegt sind, aber meist nur eine davon (in der Regel die heterosexuelle) später ausgelebt wird. Der amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey kommt zu dem Schluß, daß mehr als ein Drittel der Menschen homosexuelle Erlebnisse haben oder hatten. Zahlenangaben dafür, wie viele Menschen überwiegend oder ausschließlich homosexuell empfunden, reichen von 4 bis zu 10% der Bevölkerung. Die Begriffe Homosexueller und Heterosexueller müssen also unscharf bleiben; die Grenze zwischen ihnen ist fließend. Außerdem kann die geschlechtliche Orientierung während des Lebens wechseln oder sich verschieben: Etliche Menschen entdecken ihre homosexuellen Anteile erst nach vielen glücklichen Ehejahren als Familienvater oder -mutter. Wer von "Homosexuellen" und "Heterosexuellen" spricht, kann also bestenfalls zur Zeit überwiegend Homosexuelle bzw. Heterosexuelle meinen.

Ein weiterer Begriff, der häufig benutzt wird ist schwul. Ursprünglich aus "schwül" entstanden und ein Schimpfwort, wurde er von selbstbewußten Homosexuellen (Schwulen) gewendet in ein Bekenntnis zu offen gelebter und politisch-kämpferisch verstandener Homosexualität. Wegen seines verächtlichmachenden Beigeschmacks wird er von Nicht-dazu-Gehörenden gerne vermieden; da er aber kurz, kein Fremdwort sowie allgemein bekannt ist, benutzte ich ihn positiv für offen gelebte Homosexualität und vor allem, wenn es um deren soziale Auswirkungen geht.
 
 

Urteile und Vorurteile


In unserer "aufgeklärten" Gesellschaft wird zwar immer mehr über Sexualität gesprochen, und sie findet auch überall statt -- allerdings wird lediglich ihr heterosexueller Teil verständnisvoll toleriert, homosexuelle (und vor allem körperlich-sexuelle) Beziehungen sind noch immer von Bewußtseinsnebeln, Tabus und Vorurteilen umgeben. Noch 1951 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, daß die beiden großen Kirchen die Volksmeinung bilden und deshalb homosexuelles Verhalten als widernatürlich und unmoralisch gelten müsse. Erst 1969 wurde der Paragraph 175 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der zuletzt 1935 von den Nazis verschärft worden war, ein erstes Mal "liberalisiert". Homosexuelle Handlungen gelten seit 1973 immer noch als strafbar, wenn sie von einem Mann über 18 an einem anderen unter 18 Jahren "vorgenommen" werden.

Durch die veränderte strafrechtliche Lage hat sich im Bewußtsein der Bevölkerung seit Ende der 60er Jahre zwar einiges verändert, jedoch sind Halbwahrheiten und Vorurteile noch immer massenhaft anzutreffen -- dies kann man zum Beispiel in den letzten Jahren an den Medienkampagnen zu AIDS und den Reaktionen der Bevölkerung sehen. Einige solcher (Vor-?)Urteile lohnen eine genauere Betrachtung.

Statistisch gesehen, leben gleichgeschlechtlich liebende Menschen tatsächlich seltener in dauerhaften oder gar "eheähnlichen" Beziehungen -- aber nicht, weil Homosexuelle von Natur aus so etwas nicht könnten. Die Gesellschaft bietet ihnen für solche Beziehungen weder Freiräume noch Unterstützung an und macht es nahezu unmöglich, eigene, neue Beziehungsformen und Lebensweisen zu entwickeln. Dadurch ist es für Homosexuelle sehr viel schwieriger, äußeren Forderungen und eigenen Wünschen nach dauerhafter Partnerschaft nachzukommen. Tatsächlich sind Homosexuelle häufig auf Jugend fixiert -- aber genauso Heterosexuelle. Der Jugendkult ist längst zur gesellschaftlichen Norm für alle geworden. Und wenn es Verführung gibt, ist die Verführung zur Heterosexualität gewiß die stärkere. Allerdings ist es dann kaum verständlich, warum trotzdem so viele Menschen -- auch ohne verführerische Vorbilder -- gerade anders leben wollen, als es ihnen von Eltern, Verwandten usw. vorgemacht worden ist. Hier werden die Begriffe Mann/Frau verwechselt mit der Polarität männlich/weiblich. Mehr dazu später. Meist wollen die Menschen die Ursache der Homosexualität nur wissen, um diese wegzumachen oder um "so etwas" wenigstens beim nächsten Mal zu vermeiden. Natürlich ist die Suche nach Gründen berechtigt als Suche nach Erkenntnis -- wer möchte nicht wissen, warum er gerade der und nicht ein anderer ist? Darf man aber gleich etwas wegmachen, "therapieren" oder verhüten wollen, wenn es einem nicht paßt? Müssen solche Eigenschaften eines Menschen nicht unmittelbar als schutzwürdig gelten? Auf welche schlüpfrige Ebene man da geraten kann, zeigen die Rattenversuche des Ostberliner Professors Günter Dörner: Er stellte fest, daß seine Versuchstiere homosexuelles Paarungsverhalten zeigten, wenn ihnen während der Schwangerschaft bestimmte Sexualhormone fehlten, und wollte diese "Erkenntnis" dann sofort für die menschliche Homosexualität und deren Verhütung praktisch nutzbar machen -- nicht bedenkend, daß zwischen homosexuellem Paarungsverhalten von Ratten und gleichgeschlechtlichem Empfinden des Menschen doch gewisse Unterschiede bestehen. Dazu ist zu entgegnen: Wer dies nicht auch der gar überwiegend tut, der werfe den ersten Stein! Oder klingt in diesem Vorwurf vielleicht ein bißchen Neid mit? Oder soll das "nur" bedeuten: Ihr Schwulen verweigert die biologische Produktivität? Mit diesem Vorwurf müssen sich dann aber auch kinderlose (Ehe-)Paare und alle anderen biologisch Unproduktiven auseinandersetzen!
 
 

Möglichkeiten und Chancen


In vielen Gesprächen und nicht zuletzt durch die kritische Auseinandersetzung mit anthroposophischen Ideen habe ich Ansatzpunkte gefunden, gleichgeschlechtliche Orientierung nicht nur als Mangel, sondern positiv und im Hinblick auf eine möglicherweise damit verbundene Chance zu sehen.

Vielen Menschen ist der wichtigste Einwand gegen gleichgeschlechtliche Lebens- und Liebensformen ihre biologische Unfruchtbarkeit. Dem halte ich entgegen: Gerade die biologische Unfruchtbarkeit ist die Chance homosexueller Beziehungen! Was hier mangelt, kann als geistige, künstlerische und soziale Fruchtbarkeit um so wirksamer werden. Genauso wie kinderlose heterosexuelle Paare können Homosexuelle andere Formen der Selbstverwirklichung und Wirksamkeit für ihre Mitwelt finden -- vielleicht ein "geistiges Kind", ein "künstlerisches Kind", ein "soziales Kind". Ähnliches gilt auch für Menschen, die durch andere Abweichungen von gesellschaftlichen Normen unter besonderen, feindlichen Bedingungen leben müssen: Kranke, Behinderte, Farbige, Ausländer... Sie alle müssen ihr Anderssein entweder so weit wie möglich aufgeben, verbergen oder verleugnen oder aber selbstbewußt gegen die Umwelt verteidigen -- und das erfordert gesteigerte Wachheit und verstärkte Ich-Kräfte. Die Chancen sind natürlich keine Automatismen. Sie werden uns durch ein solches Anderssein angeboten, werden aber nur wirksam, wenn wir sie ergreifen. Sonst überwiegen die einschränkenden, feindlichen, diskriminierenden und krankmachenden Bedingungen, und wir werden zu jammernden und klagenden Außenseitern.

Die in unserer Gesellschaft noch vorherrschende Ablehnung alles Homosexuellen, die nahezu jeder, der irgendwann in sich solche Anteile entdeckt und zu leben versucht, erfahren muß, macht sensibler auch für alle anderen Arten von Unterdrückung und Diskriminierung, macht offener für alles Von-der-Norm-Abweichende, macht skeptischer gegenüber den eingefahrenen Wegen, auf denen die meisten Menschen so selbstverständlich und widerspruchslos entlanggeschoben werden...

Gleichgeschlechtlich Liebende haben die Möglichkeit, neue und eigene Formen des mitmenschlichen Zusammenlebens zu suchen und zu erproben: Die tragenden Institutionen des heterosexuellen sozialen Lebens, wie zum Beispiel die Ehe, passen nicht. Wenn sie versuchen, sie trotzdem zu übernehmen, beispielsweise, indem sie "wie Mann und Frau" und mit derselben dort üblichen Rollenverteilung zusammenleben, wird das leicht zum lächerlichen Zerrbild. Was auch für heterosexuell lebende Menschen gilt, trifft für Homosexuelle ganz besonders zu: Das Zusammenleben muß unabhängig von durch Eltern und Familie vorgelebten Traditionen neu gegriffen und gestaltet werden. Homosexuelle müssen, sehr viel stärker als etwa unverheiratet zusammenlebende heterosexuelle Paare, ihre Lebensweise immer von neuem gegenüber Umwelt, Nachbarn, Familie, Arbeitskollegen rechtfertigen und begründen (oder verstecken!). Dabei kann man viel Zeit und Kraft verlieren -- und auch im schlimmsten Fall zerbrechen --, aber die Anstrengung kann auch neue Kräfte freisetzen und kreativ genutzt werden. Wo Muster und Schablonen fehlen, ist Raum, Neues zu erfinden und zu erproben.

Mehrere Menschen berichten, die Beschäftigung mit Steiners "Philosophie der Freiheit" und seine konsequente Auffassung von der Selbstgestaltung und -verantwortung der menschlichen Handlungen habe ihnen den Mut gegeben, vor sich und der Welt zu ihrer Homosexualität zu stehen und sie als einen Teil ihres Wesens zu akzeptieren. In einer Zeit des Zweifelns und der Unsicherheit über ihre geschlechtliche Orientierung ("Coming out") bekamen sie so die Möglichkeit, die starke Stellung äußerer "Moral"-Instanzen (Kirche, Elternhaus, "gesundes Volksempfinden"...) zurückzudrängen und einen eigenen Schritt zu tun.
 
 

Anthroposophen und Schwule


Anthroposophen und Schwule - sind das nicht zwei völlig verschiedene Menschengruppen? -- Auch wenn es viele gerne so hätten -- natürlich ist es nicht so, sondern es gibt immer wieder Berührungs- und Überschneidungspunkte: Anthroposophen reden und urteilen über Schwule (oder Homosexuelle), Anthroposophen sind vielleicht selber schwul (oder entdecken homosexuelle Anteile), Schwule interessieren sich für Anthroposophie. Und: Es gibt etwas Typisches im Umgang zwischen Anthroposophen und Schwulen.

Zunächst fallt auf, daß Homosexualität in anthroposophischen Kreisen fast nie ein Thema ist. Sexualität -- und gleichgeschlechtliche erst recht -- wird tabuisiert, als Privatsache angesehen und mit einem Mantel des Schweigens umgeben. Die Symbole offen gelebten Schwulseins sind nicht bekannt, werden ignoriert oder bestenfalls ohne weiteres Interesse zur Kenntnis genommen: zum Beispiel der "rosa Winkel", der vom diskriminierenden nationalsozialistischen Symbol für Homosexuelle in den Konzentrationslagern zum Zeichen selbstbewußt und offensiv gelebter Gleichgeschlechtlichkeit umgewandelt wurde.

Ganz besonders schwer ist es für Jugendliche -- beispielsweise für Waldorfschüler --, ihr homosexuelles "Coming out", das Akzeptieren einer eigenen gleichgeschlechtlichen Orientierung und ihr allmähliches Bekennen", In einer anthroposophischen Umwelt zu erreichen. Das Leben und Denken vieler Anthroposophen ist so durchdrungen und geprägt von der Polarität von Mann und Frau, daß schon allein die Vorstellung, Menschen des gleichen Geschlechts könnten sich genauso gut ganzheitlich -- also auch körperlich -- verstehen und produktiv ergänzen, als unangebracht, ungeistig, falsch und böse erscheinen muß.

Wer in die real existierende anthroposophische Welt erst als Erwachsener hineinkommt und vorher eine eigene gleichgeschlechtliche Orientierung entdeckt hat, empfindet meist die Stimmung, die ihm entgegengebracht wird, als einen Rückschritt in die 50er Jahre: Tabu, Vorurteil, Wegschauen oder gar Ablehnung und "Heilungs"-Versuche. (Da wird zum Beispiel diskret eine anthroposophische Ärztin erwähnt, die ein Weleda- oder Wala-Medikament wisse, das da helfe...)

Und es gibt auch direkte Diskriminierungen: Menschen verlieren den Ausbildungsplatz, werden von der Schule entfernt und dergleichen mehr. Diese Aussagen sind zwar sehr pauschal formuliert, und es wird mit Sicherheit viele Anthroposophen geben, die dem Klischee überhaupt nicht entsprechen; aber die Tatsache, daß mir immer wieder Menschen diese Erfahrungen berichten und bestätigen, zeigt, daß sie doch weit verbreitet sind.
 
 

Anthroposophische Denkansätze


Wie sieht es mit einer theoretischen Aufarbeitung unseres Themas aus? Da wird in der Regel zuerst gefragt: "Was hat Rudolf Steiner dazu gesagt?" Dies kann aber nicht durch eine veröffentlichte Äußerung zur gleichgeschlechtlichen Liebe beantwortet werden, und so muß die Fragerichtung erweitert werden: "Was haben Anthroposophen dazu gesagt?". Homosexualität wird hier nicht häufig thematisiert; wenn dann von ihr die Rede ist, dann oft in unklaren und verwaschen bleibenden Andeutungen, wie zum Beispiel bei Olaf Koob, der im Zusammenhang mit AIDS von Homosexuellen spricht als "Menschen, die ihre Lebenskräfte im Blut absichtlich oder aber von Geburt her geschwächt bzw. beschädigt haben". Leider bleibt das unerklärt. -- Abgesehen von solchen aphoristischen, hingeworfenen Sätzen scheinen mir unter der "Sekundärliteratur" drei Denkrichtungen wesentlich zu sein, die ich hier kurz vorstelle.

Eine weit verbreitete Theorie über die "Homophilie" stammt von dem holländischen Arzt Dr. med. L. F. C Mees. Sie ist durch die mehrfache Veröffentlichung des fleißig schreibenden und vortragenden Autors schon recht bekannt und verdient (allerdings nur deshalb) Beachtung. Obwohl sie mir sehr spekulativ und konstruiert erscheint, will ich sie kurz zusammenfassen. Vorausgesetzt wird die Idee der Wiederverkörperung (Reinkarnation) des Geistes sowie die Kenntnis der menschlichen Wesensglieder aus der anthroposophischen Menschenkunde. -- Mees geht von der Abtreibung und ihren vermuteten Folgen für die ungeborene Seele aus: Diese könne sich nicht mehr am Ort ihrer ersten Wahl inkarnieren und müsse sich einen weniger passenden Ort suchen. Der so zunächst abgetriebene und dann am falschen Platz geborene Mensch wird zur "displaced person", die sich in keiner Heimaterde verwurzeln kann. Ein Symptom dieses Mangels an Verbindung zur Umgebung könne die "Homophilie" sein. Mees denkt sich das so: Der physische Leib des Kindes sei grundsätzlich vom gleichen Geschlecht wie der ihn aufbauende Äther- oder Lebensleib, denn nur so könne er von diesem gebildet und gestaltet werden. Rudolf Steiner hat aber gesagt, daß beim Manne der Ätherleib weiblich und bei der Frau männlich ist. Um diesen Widerspruch zu bewältigen, erdenkt Mees einen Geschlechtswechsel des Ätherleibes zum Zeitpunkt der Pubertät, der durch die nun stattfindende Verbindung mit Erde und Umwelt zustandekomme. Bei der abgetriebenen und dann "displaced" geborenen Seele gelinge aber diese Verbindung mit der ihr schicksalsmäßig vorbestimmten Umwelt nicht, und ein Symptom dafür könne oben die "Homophilie" sein. Das Nicht-Gelingen der Umarbeitung des Ätherleibes in die gegengeschlechtliche Form habe also zur Folge, daß die "natürliche" Liebe des Mannes zum Weib nicht möglich wird. Um die Art Mees'scher Gedankenführung wiederzugeben, zitiere ich die Begründung dieses Zusammenhanges zwischen Geschlechtlichkeit des Ätherleibes und der Richtung der Liebe:

"Den Gedanken, daß ein normaler Mann einen weiblichen Ätherleib ausbildet..., möchte ich in Zusammenhang bringen mit der Tatsache, daß ein Mann unter diesen Umständen die Liebe zu einem weiblichen Wesen als eine natürliche Veranlagung in sich tragen muß. Man könnte das Weib als die Erfüllung eines Wunsches betrachten. Wenn ein solcher Mann nicht heiratet, bildet der weibliche Teil seines Bildekräfteleibes mit ihm doch ein harmonisches Ganzes. -- Was wird geschehen, wenn wir es mit einem Mann zu tun haben, der nicht das Bedürfnis nach einer Frau, sondern nach einem Mann in sich trägt? Läge es nicht auf der Hand zu denken, daß dieser Mann einen männlichen Ätherleib hat? Wir haben mit der Homophilie zu tun." Einen etwas anderen Standpunkt nimmt Stefan Leber ein, der 1981 mit einem ersten Buch über Geschlechtserziehung an die anthroposophische Öffentlichkeit trat. Er geht nicht von der "Vertauschung" des Ätherleibes aus, sondern vermutet, daß der Homosexuelle weniger den physischen, dafür aber mehr den ätherischen Leib beim anderen Menschen erlebe, sich also vom Weiblichen im Manne, von dessen Ätherleib angezogen fühle, während der heterosexuelle (gegengeschlechtlich liebende) Mann folgerichtig das Weibliche im Weibe, also den physischen Leib, als erotisch anziehend empfinde.

Eine dritte Aussage stammt von Bernard C. J. Lievegoed, einem in den Niederlanden sehr bekannten anthroposophischen Autor. Ich zitiere die betreffende Stelle im Wortlaut, da sie an Kürze und Präzision kaum zu überbieten ist:

"Homosexualität (...) hat ihre Wurzel in der Entwicklungsgeschichte des physischen Leibes. In den ersten Wochen der Embryonalzeit wird die sogenannte "Urniere" angelegt, aus welcher sich sowohl die männlichen, als auch die weiblichen Organe entwickeln können. Anfänglich ist es auch tatsächlich so, daß sich beide Möglichkeiten zugleich entwickeln, ab einem bestimmten Moment jedoch, zwischen dem 20. und dem 30. Tag, entwickelt sich dann nur noch die eine Möglichkeit, und die andere wird zurückgehalten. Die Reste dieser anderen Möglichkeit sind dann während unseres ganzen Lebens in unausgebildeter Form weiterhin in uns vorhanden. Der Ätherleib als die formbildende, aktivierende Kraft bringt das Wachstum zustande, und wo dies der Fall ist, hat sich der Ätherleib völlig mit der Physis verbunden. Überall dort aber, wo sich eine potentielle Möglichkeit, die im Ätherleib vorhanden ist, nicht im Physischen auslebt, besteht diese Ätherstruktur als solche dennoch weiter. So kommt es, daß jeder Mann einen weiblichen Ätherleib besitzt und jede Frau einen männlichen Ätherleib. Das besagt: Dem physischen Leibe nach ist man ein Mann oder eine Frau, vom Ätherischen aber ist das jeweils andere Geschlecht potentiell anwesend. Nun hängt vieles davon ab, ob man sich seelisch mehr auf den physischen Aspekt seiner Verkörperung orientiert oder ob man nicht ganz bis dahin 'hinuntersteigt' und sich mehr im eigenen Ätherleib erlebt. Die Homosexualität ist ein Problem der menschlichen Seele in ihrem Verhältnis zum physischen und ätherischen Leibe. Viele Homosexuelle fühlen sich erhaben über andere Menschen, da sie sich (meist unbewußt) als etwas weniger 'irdisch' erleben. Auf der anderen Seite bedeutet die Tatsache, daß man nicht ganz in seine physische Inkarnation herabsteigt, eine Verarmung hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des betreffenden Lebens. Doch gerade die Wahl solcher Inkarnationsbedingungen und der damit zusammenhängenden fehlenden Kräfte hat einen tiefen karmischen Hintergrund, den man nur dann zu beurteilen vermag, wenn man in verantwortlicher Weise das Karma eines anderen Menschen durchschauen kann. Solange dies nicht möglich ist, enthalte man sich aller Spekulationen und vor ollem allgemeiner Äußerungen über mutmaßliche karmische Hintergründe." Ergänzend möchte ich einen Satz aus einem anderen Werk desselben Autors zitieren: "Allgemein kann man sagen, daß die Menschen, bei denen die Verhältnisse völlig klar liegen (gemeint sind die eindeutig Homosexuellen und die eindeutig Heterosexuellen, C.K.) für ihre Sicherheit mit einer Beschränkung ihrer inneren Erlebnismöglichkeiten büßen müssen, daß aber Ausgewogenheit nach beiden Seiten seelische Bereicherung bringt." Und auch Lievegoed hat als Arzt und Lebensberater die Erfahrung gemacht, "eine eingestandene und akzeptierte Homosexualität" könne "der erste Schritt sein, einen eigenen Weg, ein individuelles Leitmotiv in einer heterosexuellen Welt zu finden."

Die Ausführungen Lievegoeds kann ich unmittelbar am besten nachvollziehen. Der Mut weiterzudenken wird allerdings wirksam gebremst -- Lievegoed hat auf die Verantwortung für alle Spekulationen und Mutmaßungen aufmerksam gemacht, jedenfalls was die Schicksale anderer Menschen betrifft.
 
 

Männlich / weiblich


Für unser Thema ist es sehr wichtig, zu unterscheiden zwischen den Begriffspaaren weiblich-männlich und Mann-Frau. Sie sind keineswegs identisch. Allgemein bekannt ist die Tatsache, daß im Körper des Mannes auch "weibliche" Sexualhormone vorkommen. Sie werden in ihrer Wirkung nur überlagert von den männlichen - trotzdem nennen wir das Wesen, der physischen Erscheinung nach, Mann, und nicht etwa "Dreiviertelmann". Ähnliches gilt für die anderen Merkmale, die für die Entscheidung, ob Mann oder Frau, wichtig sind: Nicht das reine Auftreten, sondern ihr Überwiegen zählt. Nicht selten ist die Entscheidung auf den ersten Blick gar nicht so leicht -- und die Natur produziert ja auch manchmal echte Zwischenstufen ("Zwitter").

Die eigentliche Polarität ist also die des Weiblichen und Männlichen mit ihren verschiedenen Merkmalen, jedes Individuum befindet sich irgendwo in diesem vieldimensionalen Feld, und je nachdem, ob die weiblichen oder die männlichen Eigenschaften vorherrschen, sagen wir "Frau" oder "Mann".

Noch verwirrender wird das alles, wenn wir nun noch die gegengeschlechtlichen Ätherkräfte hinzudenken sollen - der Mann hat einen weiblichen Ätherleib! Was uns also beim Mann seelisch-geistig oft als "typisch männlich" auffällt -- zum Beispiel sein intellektuelleres, abstrakteres, schärferes, aber auch ungeistigeres Denken --, entsteht möglicherweise gerade durch weibliche Ätherkräfte...?

Hiermit soll nur gezeigt werden, daß Mann und männlich bzw. Frau und weiblich nicht dasselbe ist. Das hat für unser Thema Homosexualität eine wichtige Konsequenz: Müssen sich im täglichen Leben nun Mann und Frau ergänzen (zum Beispiel in der Ehe) --, oder will das Männliche zum Weiblichen? --, und sind dazu Mann und Frau nötig --? Solche Fragen, jenseits aller muffigen Moral und Konvention, aufzugreifen und zu erhellen, könnte ein interessantes Feld für anthroposophisch-phänomenologische Forschungen sein.
 
 

Was tun?


Wie wäre es mit einer großangelegten Homosexuellen-Demonstration auf dem Dornacher Hügel? -- Nein, es wurden schon viel originellere Vorschläge gemacht: Pseudonymus hat in "Info3" angeregt, an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach eine Sektion für Sexualwissenschaft einzurichten und die Herausgabe eines Buches mit dem Titel "Homosophie" vorzubereiten. Diese Art von Anregungen würde ich sehr gerne erweitern (z.B. könnte Pseudonymus ein Preisausschreiben veranstalten, mit der Frage, welche unter den bekannten Anthroposophen zu den gleichgeschlechtlich Liebenden gehören und woran man dies erkennt. Ich will es mir jedoch versagen, einem wichtigen Thema durch Ironie oder Satire die Annahme zu erschweren - auch wenn sie für manche Menschen dadurch vielleicht eher erleichtert würde.

Selbst ernster gemeinte Vorschläge werden es schwer haben: Die Ängste vor der Verbindung von schwul und anthroposophisch sind groß. Eine anthroposophische Dame schreibt, ohne ihren Namen nennen zu wollen (!), an Info3:

"Mir graut vor den anthroposophischen Schwulengruppen, deren Vorboten sich in Ihren Kleinanzeigen bereits finden." Was meint sie damit? Wovor graut ihr? Weiß sie überhaupt, was eine Schwulengruppe ist? -- Nach der Änderung des Strafgesetzbuch-Paragraphen 175 im Jahr 1969 war es für gleichgeschlechtlich empfindende Menschen befreiend, sich endlich ohne die ständige Bedrohung durch das Strafgesetz auch in Gruppen treffen, über ihre Schwierigkeiten sprechen und sich gemeinsam für einen weiteren Abbau der gesellschaftlichen Vorurteile und Diskriminierungen einsetzen zu können. Genau dasselbe ist auch befreiend für Schwule, die sich mit Anthroposophie beschäftigen, und Anthroposophen, die ihre gleichgeschlechtlichen Anteile entdecken: sich zusammenzuschließen in anthroposophischen Schwulengruppen bzw. Arbeitskreisen zum Thema "Anthroposophie und Homosexualität". Dort können sie Kraft für das Leben als Schwuler unter Anthroposophen (sowie als Anthroposoph unter Schwulen) sammeln und Erkenntnisversuche unternehmen -- und von dort aus muß vor allem für Toleranz und Akzeptanz gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe in den Kreisen der Anthroposophen (sowie gegenüber der Anthroposophie in Kreisen der Schwulen) geworben werden. Ansätze zu solchen Gruppenbildungen gibt es meines Wissens in der BRD, in den Niederlanden und in Großbritannien. Hoffentlich werden sie dazu beitragen, daß bald Artikel wie dieser überflüssig werden!

Auch auf der persönlich-individuellen Ebene könnte viel getan werden. Gleichgeschlechtlich liebende Menschen müssen, wie gesagt, Formen für ihr (Zusammen-)Leben noch schaffen, die Gesellschaft bietet ihnen nichts "Passendes" an. Ein Nachahmen der bürgerlichen heterosexuellen Ehe scheint für viele zunächst der leichteste Ausweg aus der doch nicht gewollten bloßen Promiskuität und inneren Einsamkeit zu sein. Wer so zu leben versucht, steckt aber in zweierlei Hinsicht in einer Sackgasse: Er redet sich ein, dadurch genauso "normal" und akzeptiert zu werden wie die anderen, die Heterosexuellen -- ohne zu bedenken, wie schnell erfahrungsgemäß solche "Toleranz" wieder in massiven Haß umschlagen kann; und er vertut die Chance, die Homosexualität bietet: die Infragestellung all der bürgerlichen Selbstverständlichkeiten, in die ein "normales" Ehepaar heute verstrickt ist; er verzichtet auf die besondere Wachheit, die sich nur einstellt, wenn das Anderssein bemerkt, reflektiert und zur bewußten Neugestaltung genutzt wird.

Die Frage "Was tun?" bleibt weitgehend ohne Antwort -- sie muß von jedem einzelnen gegeben, gelebt werden. Nicht nur von gleichgeschlechtlich Liebenden -- sie haben lediglich weniger gute Fluchtmöglichkeiten.

Christoph Kranich

Literatur

Koob, Olaf: Die tieferen Hintergründe der AIDS-Erkrankungen und ihre menschenkundlichen Aspekte, in: Die Kommenden, Heft 4, April 1986

Leber, Stefan: Geschlechtlichkeit und Erziehungsauftrag. Ziele und Grenzen der Geschlechtserziehung, Stuttgart 1981

Lievegoed, Bernard: Lebenskrisen - Lebenschancen. München 1979, S. 99ff

-ders.: Der Mensch an der Schwelle - Biographische Krisen und Entwicklungsmöglichkeiten, Stuttgart 1985, S. 103

Mees, L.F.C.: Das Problem der Homophilie, in: Die Kommenden, Heft 20, 25.10.1983


 

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