Vorwort der Redaktion:
Mancher von Ihnen wird sich bei dieser Überschrift
wundern, was solch ein Artikel im "Hinweis" zu suchen hat. Es kann im Rahmen
dieses Heftes auch nicht der Anspruch erfüllt werden, ein solches
Thema inhaltlich und wissenschaftlich zu durchleuchten. Wir wollten vielmehr
einer Außenseitergruppe bzw. einem Vertreter davon die Möglichkeit
bieten, seine Anliegen und Wünsche darzulegen. Bisher war der "Hinweis"
ein Forum, auf dem Einrichtungen ihre Angebote und Impulse mitteilen konnten.
So ist dies ein Versuch, Bedürfnisse des Publikums an die Einrichtungen
heranzutragen. Vielleicht entsteht dadurch ein Interesse an einem bisher
weniger beachteten Menschenkreis der Anthroposophie.
Hinweis: Christoph, Du bist Homosexueller und Anthroposoph! Wie lebst Du mit diesen zwei Tatsachen, welche Erfahrungen machst Du dabei und wie kannst Du beides miteinander verbinden?
Christoph Kranich: Ich gehe nicht davon
aus, daß es Homosexuelle und Heterosexuelle gibt und Anthroposophen
und Nicht-Anthroposophen, sondern da sind fließende Übergänge,
und irgendwo auf diesen Übergängen fühle ich mich auch angesiedelt.
Und zu der eigentlichen Frage ... Es ist
nicht leicht, diese beiden Dinge miteinander zu verbinden. Es sind auch
zwei ganz verschiedene Dinge. Homosexualität ist eine Frage des Mitmenschlichen
und Anthroposophie ist eine Frage, wie ich mich dem Geistigen gegenüber
verhalte. Das müßte eigentlich locker nebeneinander funktionieren
können. Erstaunlicherweise habe ich aber in meinem eigenen Leben die
Erfahrung gemacht -- und habe das auch immer wieder von anderen gehört
-- daß es da erhebliche Schwierigkeiten gibt. Daß Anthroposophen
Probleme mit Homosexualität und Vorurteile gegenüber Schwulen
haben, und daß daher unter Homosexuellen Anthroposophie nicht als
etwas gesehen wird, was großartig ernst genommen werden muß.
Hinweis: Wie lebst Du dann die Anthroposophie, wenn Du in anthroposophischen Kreisen auf Vorurteile stößt und soziale Schwierigkeiten hast?
Christoph: Die erste Konsequenz ist, daß ich in keiner anthroposophischen Einrichtung lebe und arbeite. Die zweite, daß ich mich aktiv mit dieser Frage beschäftige. Ich habe vor fünf Jahren eine Arbeitsgruppe mitgegründet zu dem Thema "Anthroposophie und Homosexualität", in der wir regelmäßig an diesem Thema arbeiten und uns fagen, ob da echte Unvereinbarkeiten sind. D.h. wie ist das beides miteinander zu verbinden und wieso gibt es im Äußerlichen so viele Schwierigkeiten.
Hinweis: Und zu welchen Ergebnissen seid Ihr gekommen?
Christoph: Wir sind noch nicht so weit, daß wir unter die Geistesforscher geraten wären. Wir können nur sagen, es ist ein langer Weg, denn Steiner hat zu diesem Thema nichts veröffentlicht, und wir müssen das selber erarbeiten. Wir müssen versuchen, das anthroposophische Menschenbild daraufhin abzuklopfen: Läßt sich ein Verständnis für die Homosexualität daraus gewinnen und welche Konsequenzen können wir für unser Leben ziehen?
Hinweis: Kannst Du einige Ansätze nennen, die Ihr Euch erarbeitet habt?
Christoph: Manche anthroposophische
Autoren suchen die Ursache der Homosexualität auf der Ebene der Leiblichkeit
und fragen nach dem Verhältnis von Männlich und Weiblich. Andere
-- und das erscheint mir wesentlich plausibler -- bringen Homosexualität
mit der Frage der Reinkarnation und dem, was sich ein Mensch auf dieser
Erde vorgenommen hat, in Beziehung, wie z.B. Professor Lievegoed aus Holland.
Und schließlich müssen wir uns auch mit dem ganz allgemeinen
Phänomen Sexualität beschäftigen, da besteht unter Anthroposophen
ein enormer Nachholbedarf.
Über die Krankheit Aids wird die Homosexualität
immer mehr zum Gesprächsthema, und es wird immer deutlicher, welches
Unverständnis und welche Fehlinformationen darüber herrschen.
Vor allem hinsichtlich der Frage, wieviel Homosexualität mit Promiskuität
zu tun hat, d.h. ob speziell die Homosexuellen ständig wechselnde
Partner haben, oder ob das eine Gefahr der Sexualität überhaupt
ist.
Hinweis: Christoph, was würdest Du Dir von den anthroposophischen Einrichtungen und den Menschen, die darin leben und arbeiten, wünschen?
Christoph: Zunächst halte ich
es für notwendig, daß sich auch die Menschen, die sich nicht
direkt betroffen fühlen von Homosexualität, mit diesem Thema
auseinandersetzen. Nicht nur wegen Aids, sondern weil es für homosexuell
empfindende Menschen sehr wichtig ist, daß sie in einer Gemeinschaft
integriert leben können, daß sie nicht ihre Homosexualität
abspalten und so in zwei verschiedenen, sich ausschließenden Welten
leben müssen. Wenn sich die Menschen in anthroposophischen Einrichtungen
nämlich nicht damit beschäftigen, dann besteht die Gefahr, daß
sich an dieser Stelle "unanthroposophische", herkömmliche Moralvorstellungen
einmischen und das Urteilsvermögen bestimmen, z.B. wird Homosexualität
für Krankheit oder Sünde gehalten. Dadurch ist Menschen, die
damit leben, überhaupt nicht gedient.
Zum zweiten wünsche ich mir, daß
diejenigen, die von Homosexualität in irgendeiner Weise betroffen
sind, sich offener, offensiver und direkter zu Wort melden und die anderen,
die sich gerne vor diesem Thema drücken möchten, konfrontieren,
ja provozieren!