Artikel aus: Hinweis -- Veranstaltungen und Berichte aus Einrichtungen auf anthroposophischer Grundlage im Raum Hamburg -- Oktober 1988, S. 6f



 
 

Homosexualität und Anthroposophie

Christine Pflug spricht mit Christoph Kranich
 

Vorwort der Redaktion:
Mancher von Ihnen wird sich bei dieser Überschrift wundern, was solch ein Artikel im "Hinweis" zu suchen hat. Es kann im Rahmen dieses Heftes auch nicht der Anspruch erfüllt werden, ein solches Thema inhaltlich und wissenschaftlich zu durchleuchten. Wir wollten vielmehr einer Außenseitergruppe bzw. einem Vertreter davon die Möglichkeit bieten, seine Anliegen und Wünsche darzulegen. Bisher war der "Hinweis" ein Forum, auf dem Einrichtungen ihre Angebote und Impulse mitteilen konnten. So ist dies ein Versuch, Bedürfnisse des Publikums an die Einrichtungen heranzutragen. Vielleicht entsteht dadurch ein Interesse an einem bisher weniger beachteten Menschenkreis der Anthroposophie.


Hinweis: Christoph, Du bist Homosexueller und Anthroposoph! Wie lebst Du mit diesen zwei Tatsachen, welche Erfahrungen machst Du dabei und wie kannst Du beides miteinander verbinden?

Christoph Kranich: Ich gehe nicht davon aus, daß es Homosexuelle und Heterosexuelle gibt und Anthroposophen und Nicht-Anthroposophen, sondern da sind fließende Übergänge, und irgendwo auf diesen Übergängen fühle ich mich auch angesiedelt.
Und zu der eigentlichen Frage ... Es ist nicht leicht, diese beiden Dinge miteinander zu verbinden. Es sind auch zwei ganz verschiedene Dinge. Homosexualität ist eine Frage des Mitmenschlichen und Anthroposophie ist eine Frage, wie ich mich dem Geistigen gegenüber verhalte. Das müßte eigentlich locker nebeneinander funktionieren können. Erstaunlicherweise habe ich aber in meinem eigenen Leben die Erfahrung gemacht -- und habe das auch immer wieder von anderen gehört -- daß es da erhebliche Schwierigkeiten gibt. Daß Anthroposophen Probleme mit Homosexualität und Vorurteile gegenüber Schwulen haben, und daß daher unter Homosexuellen Anthroposophie nicht als etwas gesehen wird, was großartig ernst genommen werden muß.

Hinweis: Wie lebst Du dann die Anthroposophie, wenn Du in anthroposophischen Kreisen auf Vorurteile stößt und soziale Schwierigkeiten hast?

Christoph: Die erste Konsequenz ist, daß ich in keiner anthroposophischen Einrichtung lebe und arbeite. Die zweite, daß ich mich aktiv mit dieser Frage beschäftige. Ich habe vor fünf Jahren eine Arbeitsgruppe mitgegründet zu dem Thema "Anthroposophie und Homosexualität", in der wir regelmäßig an diesem Thema arbeiten und uns fagen, ob da echte Unvereinbarkeiten sind. D.h. wie ist das beides miteinander zu verbinden und wieso gibt es im Äußerlichen so viele Schwierigkeiten.

Hinweis: Und zu welchen Ergebnissen seid Ihr gekommen?

Christoph: Wir sind noch nicht so weit, daß wir unter die Geistesforscher geraten wären. Wir können nur sagen, es ist ein langer Weg, denn Steiner hat zu diesem Thema nichts veröffentlicht, und wir müssen das selber erarbeiten. Wir müssen versuchen, das anthroposophische Menschenbild daraufhin abzuklopfen: Läßt sich ein Verständnis für die Homosexualität daraus gewinnen und welche Konsequenzen können wir für unser Leben ziehen?

Hinweis: Kannst Du einige Ansätze nennen, die Ihr Euch erarbeitet habt?

Christoph: Manche anthroposophische Autoren suchen die Ursache der Homosexualität auf der Ebene der Leiblichkeit und fragen nach dem Verhältnis von Männlich und Weiblich. Andere -- und das erscheint mir wesentlich plausibler -- bringen Homosexualität mit der Frage der Reinkarnation und dem, was sich ein Mensch auf dieser Erde vorgenommen hat, in Beziehung, wie z.B. Professor Lievegoed aus Holland. Und schließlich müssen wir uns auch mit dem ganz allgemeinen Phänomen Sexualität beschäftigen, da besteht unter Anthroposophen ein enormer Nachholbedarf.
Über die Krankheit Aids wird die Homosexualität immer mehr zum Gesprächsthema, und es wird immer deutlicher, welches Unverständnis und welche Fehlinformationen darüber herrschen. Vor allem hinsichtlich der Frage, wieviel Homosexualität mit Promiskuität zu tun hat, d.h. ob speziell die Homosexuellen ständig wechselnde Partner haben, oder ob das eine Gefahr der Sexualität überhaupt ist.

Hinweis: Christoph, was würdest Du Dir von den anthroposophischen Einrichtungen und den Menschen, die darin leben und arbeiten, wünschen?

Christoph: Zunächst halte ich es für notwendig, daß sich auch die Menschen, die sich nicht direkt betroffen fühlen von Homosexualität, mit diesem Thema auseinandersetzen. Nicht nur wegen Aids, sondern weil es für homosexuell empfindende Menschen sehr wichtig ist, daß sie in einer Gemeinschaft integriert leben können, daß sie nicht ihre Homosexualität abspalten und so in zwei verschiedenen, sich ausschließenden Welten leben müssen. Wenn sich die Menschen in anthroposophischen Einrichtungen nämlich nicht damit beschäftigen, dann besteht die Gefahr, daß sich an dieser Stelle "unanthroposophische", herkömmliche Moralvorstellungen einmischen und das Urteilsvermögen bestimmen, z.B. wird Homosexualität für Krankheit oder Sünde gehalten. Dadurch ist Menschen, die damit leben, überhaupt nicht gedient.
Zum zweiten wünsche ich mir, daß diejenigen, die von Homosexualität in irgendeiner Weise betroffen sind, sich offener, offensiver und direkter zu Wort melden und die anderen, die sich gerne vor diesem Thema drücken möchten, konfrontieren, ja provozieren!
 


 

Zurück zur Seite Unsere Geschichte
Zurück zur Seite Unsere Werke
Zur Startseite